Die Münchner Wochenanzeiger sprachen mit dem leitenden Juniorenausbilder des TSV 1860 München, Wolfgang Schellenberg, über die Junglöwen.
Mit freundlicher Genehmigung der Münchner Wochenanzeiger
Herr Schellenberg, wie muss man sich Nachwuchsarbeit beim TSV 1860 München vorstellen?
Wir verfolgen in der leistungsorientierten Ausbildung im Wesentlichen zwei Ziele: Möglichst erfolgreiche Juniorenmannschaften zu haben, die die Farben des TSV 1860 München würdig vertreten, und die individuelle Ausbildung von Talenten, die sich Jahr für Jahr für die nächste Ausbildungsstufe qualifizieren – bis am Ende einige davon unseren Profikader bereichern. Wobei bei uns die individuelle Entwicklung unserer Spieler stets Vorrang vor reinem Ergebnisfußball hat.
Die Löwen gelten als erfolgreich in diesen Dingen.
Wenn Sie heute bei uns im Profikader schauen, dann stellen sie fest, dass rund ein Drittel unserer Spieler aus der eigenen Jugend stammt. Hinzu kommen die zahlreichen Spieler, die bei den Junglöwen ausgebildet worden sind und jetzt bei anderen Vereinen – größtenteils in der 1. Liga – spielen. Das haben Sie in dieser Dichte bundesweit bei kaum einem zweiten Verein. Die Liste von Profis, die aus der Nachwuchsarbeit bei 1860 hervorgegangen sind, kann sich sehen lassen. Und die sind wiederum Vorbilder für nachfolgende Generationen. Aktuell haben wir mit Vollmann, Maier und Vocay drei Spieler des Jahrgangs 1993 im Lizenzkader – welcher andere Verein kann das von sich behaupten?
Sie sind seit Februar dieses Jahres im Amt. Wo wollen Sie Akzente setzen?
Mein Anspruch ist es, hier Strukturen und Aufgabenbereiche in der Nachwuchsausbildung so zu definieren, dass sie künftig verstärkt personenunabhängig funktionieren. Da war mir in der Vergangenheit mitunter zuviel Personenkult unterwegs. Immer wieder hieß es, wenn der oder der Name im Nachwuchsbereich weg ist, dann sieht es düster aus. Das möchte ich so aber nicht gelten lassen. Wir werden dahin kommen, dass den Job dann halt einfach nahtlos ein anderer macht, der genau so gut ausgebildet ist. Die Strukturen müssen stimmen und die Aufgaben klar definiert sein. Das ist das Entscheidende. Unsere Trainer und Ausbilder befinden sich alle in einer Kette, die nur zusammen erfolgreich sein kann. Da gibt es für mich auch keine Hierarchie. Ein U12-Trainer ist genau so wichtig für den Gesamterfolg wie ein U17-Bundesliga-Trainer. Wenn jemand hier nur sein eigenes Ding fahren will, wird sich schnell die Frage stellen, ob er der richtige für uns ist. Eine sehr hohe Sozialkompetenz ist deshalb unabdingbar für Trainer und Ausbilder bei den Junglöwen. Fußballfachwissen allein reicht nicht.
Gibt es so etwas wie eine Löwen-Identität?
Oh ja. Wir haben eine außerordentlich hohe Identifikation unserer Sportler und Mitglieder mit dem Verein. Wir sind im Fußball DER Münchner Verein mit bayerischen Wurzeln.
Wie viele Spieler bilden Sie im Nachwuchsbereich aus?
Wir haben rund 160 Fußballer in allen Altersstufen und in der Summe etwa 50 Mitarbeiter in verschiedenen Funktionen, die sich um sie kümmern.
Sie betreiben auch ein eigenes Jugendinternat.
Ja, unser Internat bietet Platz für 14 externe Juniorenspieler. Alle anderen Spieler wohnen bei ihren Eltern zuhause. Die Junglöwen-Akademie ist mehr als nur ein Ausbildungsbetrieb. Die Atmosphäre dort ist geprägt von einem sehr familiären Klima. Das ist für uns wichtig. Es geht bei der Ausbildung auch nicht nur um sportliche Dinge. Neben Unterstützung bei der Schularbeit erhalten unsere Juniorenspieler auch Inspiration und Hilfestellung bei Fragen des Erwachsenwerdens. Wir kümmern uns um die Gesamtpersönlichkeit.
Wie kommt man als Verein an talentierte Nachwuchsspieler?
Einige Talente bieten sich selbst an, wir bekommen Empfehlungen, halten eigene Talentsichtungstage ab und kooperieren mit Partnervereinen. Unsere Scouts sind auf vielen Fußballplätzen unterwegs und pflegen ein breites Netzwerk.
Ist das geografisch beschränkt?
Bis zur U14 sichten wir in München und Umgebung – der Heimataspekt ist in dem Alter für uns von großer Bedeutung, bei den älteren Jahrgängen sind wir im bayerischen und süddeutschen Raum einschließlich Österreich unterwegs.
Stehen sie dabei nicht in starker Konkurrenz mit dem FC Bayern?
Sicher. Aber auch der FC Bayern kann nicht alle talentierten Spieler holen. Und dann ist es so, dass Top-Individualisten allein noch kein Versprechen auf Erfolg sind. 1860 muss sich in Sachen Nachwuchsarbeit wirklich nicht verstecken. Da haben wir eine breite Brust.
Internationale „Wunderkinder” kommen für Sie nicht in Frage?
Nein, so was ist für uns kein Thema. Das machen andere.
Sie stehen im Wettbewerb mit weiteren Profiklubs in Bayern, die auch alle auf der Suche nach den besten regionalen Talenten sind. Weshalb sollte ein Talent zu Ihnen und nicht zur Konkurrenz gehen?
Weil Talent alleine nicht reicht. Einen guten Spieler zu verpflichten, ist das eine. Das andere ist, ihn dauerhaft zu integrieren und zielgerichtet zu entwickeln. Und hier, denke ich, sind wir absolut top. Dafür haben wir hervorragende Ausbilder, die ein stringentes Konzept verfolgen, das seit Jahren nachweislich funktioniert und eine umfassende sportliche Entwicklung und Persönlichkeitsbildung ermöglicht. Unser Plus ist zudem die hohe Durchlässigkeit in allen Altersstufen bis hin zu den Profis. Es ist beispielsweise beim TSV 1860 nicht ungewöhnlich, dass Profis mit C-Junioren aus dem Förderkader eine Trainingseinheit abhalten. Das ist eine Belohnung und Ansporn für die Jugendlichen, so etwas gibt es nirgendwo sonst. Auch dürfen bei uns immer wieder ältere B- und A-Juniorenspieler, die es sich mit Leistung verdient haben, bei den Profis mittrainieren. Das ist für die Jungs eine Bereicherung ihrer Ausbildung.
Sie sind gleichzeitig noch Assistent von Reiner Maurer bei den Profis. Klingt nach einer kaum zu bewältigenden Doppelbelastung?
Natürlich ist das Mehrarbeit, die mich voll und ganz fordert. Andererseits ist es gerade dieser direkte Zugang zu den Profis, der es mir erleichtert, die Verzahnung mit dem Nachwuchs voranzutreiben.
Wie wird ein junger Mann Profispieler?
Dafür gibt es in der Praxis unterschiedliche Beispiele. Manchmal – aber wirklich nur manchmal – finden sich absolute Ausnahmetalente, wie etwa die Bender-Zwillinge oder zuletzt Kevin Volland, die Ausbildungsabschnitte überspringen können. Aber das ist keineswegs die Regel. Ein Umstand, den man als Ausbilder jungen Spielern – und auch dem einen oder anderen ihrer Berater – immer wieder vor Augen führen muss. Die Regel ist, dass jemand mit Beharrlichkeit, Fleiß und Geduld sein Talent weiterentwickelt, einen Schritt nach dem anderen macht, Rückschläge wegsteckt, eine hohe Eigenmotivation besitzt und auf diesem Weg ans Ziel kommt. Beispiele dafür sind Dominik Stahl oder Christopher Schindler. Bei den beiden ergänzen sich Begabung, Charakter und Einstellung auf vorbildliche Weise.
Das hat nicht jedes Talent verinnerlicht?
Jedes nicht, nein. Ich würde mir manchmal aus dem Umfeld heraus etwas mehr Ehrlichkeit bei der Beratung von jungen Spielern wünschen. Natürlich ist es so, dass die eine oder andere Expertise der Ausbilder für den Spieler zunächst schmerzhaft ist. Aber da hilft es nicht, so zu tun, als seien keine Defizite vorhanden. Seine Stärken weiter ausbilden, aber als Spieler auch eigene Schwächen erkennen, benennen und konsequent an ihnen arbeiten – das ist eine eigene Qualität. Wer das schafft, wird es immer weiter bringen, als ein vermeintliches Supertalent, das sich für den Überflieger hält und am Ende jäh abstürzt.
Wie verhindern Sie, dass Jahr für Jahr Talente aus ihren Reihen zum FC Bayern wechseln?
Wir versuchen natürlich die Jungs zu überzeugen, dass wir ein Ausbildungskonzept haben, das über viele Jahre hinweg Spieler in den Lizenzbereich gebracht hat, so dass ein Wechsel unserer Meinung nach Unsinn ist. Wer das aber nicht versteht und unbedingt wechseln möchte, den kann ich nicht aufhalten. Vielleicht hilft der Hinweis, dass in den letzten Jahren kaum ein Spieler, der den Schritt auf die andere Straßenseite getan hat, dort Profi geworden ist, dafür aber manche hoffnungsvolle Karriere ein abruptes Ende genommen hat. Wenn ein Talent uns in Richtung FC Bayern verlässt, dann wird es in der Regel sehr schwer für ihn zurück zu uns zu kommen. Wechselspielchen nach dem Motto „wenn ich es bei Bayern nicht schaffe, dann gehe ich halt zu 1860 zurück“, sind mit uns nicht möglich. Wir haben auch immer wieder Anfragen von Spielern, die bei unserem Nachbarn mit ihrer Situation unzufrieden sind und gerne zu 1860 kommen würden. Aber das macht häufig wenig Sinn.
Der FC Bayern soll für sich intern das Ziel ausgegeben haben mit neuem Jugendkonzept und sehr viel Geld der führende Verein im Jugendbereich in Deutschland zu werden.
Davon habe ich gehört. Das erklärt auch, warum sie so gerne bei uns vorbeischauen (lacht). Aber das ist für mich kein Thema. Ich muss mich um meine eigenen Dinge kümmern.
Der TSV 1860 hat neu das Projekt einer U21-Mannschaft anstelle der bisherigen U23 ausgerufen und damit für Irritationen gesorgt. Es hieß, 1860 wolle sich die bisherige Nachwuchsausbildung nicht mehr leisten.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir fokussieren künftig nur noch stärker als bisher auf junge Spieler. Bei genauer Betrachtung hat sich auch gar nicht viel verändert. Wir hatten in der Saison 2011/2012 einen Altersdurchschnitt von 19,9 Jahren und stellten damit die jüngste Mannschaft in der Regionalliga Süd. Und in dieser Saison wird das in der Regionalliga Bayern auch nicht anders sein. Die letzten Jahre war also de facto immer eine U21 für die Löwen am Start, jetzt heißt sie halt auch so.
Manche Kritiker prophezeien, die junge Mannschaft würde in der Regionalliga abgeschossen. Wird die Qualität reichen?
Aber ja doch. Wood, Ziereis, Bühler, Vatany, Wolf, Koussou, Karger, Geipl, Wannenwetsch, Rech, dazu aus dem Lizenzkader Vollmann, Steinhart, Vocay, vielleicht Eicher und Maier – das sind alles Spieler, nach denen sich viele Regionalligisten die Finger abschlecken würden. Wenn ich mir die Namen anschaue – die schließlich alle Profis werden wollen –, dann darf ich auch erwarten, dass sie in der Regionalliga Bayern bestehen. Deshalb habe ich keine Sorge, dass es sportlich nicht reicht. Wir wollen und werden mit unserer U21 eine gute Rolle spielen, auch wenn es vielleicht am Saisonanfang noch die eine oder andere schwankende Leistung geben wird, bis sich die Jungs an die Liga und den Herrenfußball gewöhnt haben.
Am Freitag, 20. Juli, ist Saisonauftakt für die Nachwuchs-Löwen beim TSV Buchbach.
Auf den Saisonauftakt in Buchbach freue ich mich. Das wird sicher eines der schwersten Auswärtsspiele in dieser Saison, in Buchbach geht es bekanntermaßen immer hoch her. Das ist Fußball wie er sein soll. Die neue Regionalliga Bayern mit ihren vielen Nachbarschaftsduellen gefällt mir.
Wie sieht es in der A-Junioren-Bundesliga aus?
Unsere U19 hat eine Reihe von Verstärkungen erhalten. Die ersten Trainingseindrücke stimmen mich sehr positiv. Zuletzt siegte die Mannschaft in der Vorbereitung mit 4:1 gegen den FC Everton. Mit diesem Team kann man vorne mitspielen. Ziele im Juniorenfußball muss man sich jährlich neu stecken. Das ist immer abhängig vom Jahrgang, seiner Qualität und dem jeweiligen Ausbildungsstand.
Spielen Fans, Mitglieder und das Vereinsumfeld für Ihre Arbeit eine Rolle?
Na klar. In der Fanszene bei 1860 gibt ein Phänomen, das ich ehrlich gesagt so noch bei keinem anderen Verein in Deutschland erlebt habe. Hier interessiert man sich nicht nur für die Profis. Die Fans unterstützen den Nachwuchs- und Amateursport auf phantastische Weise. Die Identifikation mit dem Verein ist in Giesing überragend. Und das ist ohne Frage auch ein handfestes Argument im Wettbewerb um Talente. In der U21 bei echter Stadionatmosphäre spielen zu können, wie es bei 1860 im Grünwalder – abgesehen vom Umbaujahr heuer – regelmäßig der Fall ist, muss Ansporn für jeden Spieler sein.
Interview: Alfons Seeler, Münchner Wochenanzeiger